Frau Bolte begrüßt den Referenten Herrn Heinrich Seitz und seine Frau sowie die Mitglieder und Gäste sehr herzlich.
Viele der Anwesenden haben in den vergangenen Jahren die Gelegenheit genutzt, nach der historischen Veränderung durch Perestroika und Glasnost nun auch nach Russland zu reisen. Insofern freuen wir uns alle sehr, durch das Ehepaar Seitz Hintergrundinformationen zu dem bei uns lange eher unbekannten Land zu erfahren.
Herrn Heinrich Seitz war es selbstverständlich, als Beamter des Auswärtigen Amtes in alle Himmelsrichtungen der Welt „verschickt“ zu werden. Als ihn jedoch Mitte 1977 – nach zuvor längerem Aufenthalt in Brasilien und zwischenzeitlicher Tätigkeit in der Zentrale des Auswärtigen Amts in Bonn – der Ruf in die Sowjetunion erreichte, als noch die kommunistische Regierung das Leben bestimmte, war die Begeisterung bei Frau Seitz zunächst nicht so groß, war doch damals für drei kleine Kinder zu sorgen. Dennoch hat Herr Seitz zugesagt und wurde zur Vorbereitung insgesamt drei Monate an das „Institut für die Russische Sprache an der Universität Bochum“ geschickt. Frau Seitz konnte erst später im Land die Gelegenheit zum Spracherwerb nutzen.
Auch wenn zur damaligen Zeit – die Familie lebte von 1978 bis 1982 in Moskau – die Kontakte zur Bevölkerung sehr eingeschränkt waren, hat das Ehepaar jede Möglichkeit gesucht, direkten Einblick in das russische Leben zu gewinnen. So lautete am Ende das Resümee, es war eine reiche, sehr wertvolle Zeit, vor allem menschlich gesehen: „Die russische Seele hat eine Bandbreite, die größer als unsere ist.“
Vor allem hat der Familie Seitz ihre Haushaltshilfe Ljudmila geholfen, die schwierigen Lebensbedingungen zu meistern. Mit großer Liebe hat sie gekocht und die Kinder verwöhnt, wovon Frau Seitz Beispiele gab.
Herr Seitz gewährt einen Einblick in die Geschichte des russischen Reiches, aus dem ich hier nur einige Punkte anführen kann: die Gründung von Nowgorod und Kiew, die erste Staatsgründung der Kievskaja Rus’ sowie die Christianisierung 988 durch Kyrill und Method von Byzanz aus. 1472 heiratete der Großfürst von Moskau, Iwan III., der Große, eine byzantinische Prinzessin, und Moskau war nun „Drittes Rom“. Der Nachfolger, Iwan IV., auch der Schreckliche genannt, war der erste Großfürst von Moskau, der sich zum Zaren von Russland krönen ließ und seinen Machtbereich bis nach Wladiwostok ausdehnte.
1613 kamen dann die Romanows an die Macht. Peter I., der Große, wollte sein Land nach Westen hin öffnen und gründete 1703 die Stadt Sankt Petersburg als seine zukünftige Hauptstadt, als „Fenster nach Europa“. Durch Katharina die Große wurde auch ein Zugang zum Schwarzen Meer geschaffen. 1917 endete dann das Zarenreich durch die Revolution. Nach Lenin wütete Stalin mit den sog. „Säuberungen“, mit den Hinrichtungen unschuldiger Menschen oder ihrer Verbannung in den „Gulag“. 1941 marschierten die deutschen Truppen in die UdSSR ein. Der „Große Vaterländische Krieg“, wie ihn die Russen nennen, forderte von ihnen mehr als 24 Mio. Opfer. Die lange Periode des „Kalten Krieges“ wurde von der Perestroika durch Gorbatschow abgelöst, dessen Wirken auch Einfluss auf die DDR und den gesamten Ostblock hatte. Die Entwicklung in den letzten Jahren durch Putins Machtstreben ist jedoch sehr unerfreulich geworden, besonders in Hinsicht auf die journalistische Freiheit.
Herr Seitz weist auch noch ausdrücklich auf die Dimensionen dieses Staates hin: 50 mal so groß wie Deutschland, doppelt so groß wie die USA, 9000 km in der Länge, 4000 km von Nord nach Süd, mit neun Zeitzonen, mit Zugang zu 13 Meeren und mit mehr als 100 Völkern!
Mit diesen Kenntnissen und Erfahrungen macht sich das Ehepaar 2012 noch einmal in dieses Land auf, und zwar zu einer Kreuzfahrt auf Wolga und Don. Zunächst wird Moskau besucht. Uns werden sehr schöne Bilder vom Kreml, dieser alten Festung mit den Regierungsgebäuden und sechs (!) Kirchen gezeigt, und vom Roten Platz mit dem alten Kaufhaus GUM, das heute luxuriöse, internationale Läden präsentiert. Wir sehen die wieder errichtete Christi- Erlöser- Kirche an der Stelle, wo ein riesiges Freibad auch im kalten Winter betrieben wurde. Hier hatte Stalin 1936 diese Kirche wie so viele andere abreißen lassen. Auch an anderen Orten wurden wieder Kirchen aufgebaut, wie z. B. links vom GUM die Kathedrale der Kasaner Gottesmutter. Das Jungfrauenkloster mit Friedhof, die berühmte Straße Arbat, das Puschkin-Denkmal mit immer frischen Blumen u. v. a. m. können wir bewundern.
Am Flusshafen -Retschnoi Woksal- steigt das Ehepaar Seitz aufs Schiff, um von dem Fluss Moskwa über den Moskau-Wolga-Kanal die Wolga zu erreichen. Das erste der wichtigsten Touristenziele des sog. Goldenen Rings von alten historischen Städten nordöstlich von Moskau wird angesteuert: Sergijew Possad (1930 bis 1991 Sagorsk) mit seinem zum UNESCO-Welterbe zählenden Dreifaltigkeitskloster. Weiter geht es u. a. nach Uglitsch, Jaroslawl, Rostow Weliki, Kostroma. Am Ufer sehen wir Dörfer mit den wunderschönen Blockhäusern und ihren geschnitzten Fensterrahmen, so dass man meinen könnte, die Zeit wäre hier stehen geblieben. Wir hören von Nischni Nowgorod, das 1932 wegen Gorkis Geburtsstadt nach ihm benannt worden war, aber nach der politischen Wende 1990 den alten Namen zurückerhielt.
In dieser Stadt musste Sacharow, der den Friedensnobelpreis erhalten, aber nicht in Empfang nehmen durfte, von 1980 bis 1986 in der Verbannung leben, bis ihm Gorbatschow 1986 die Erlaubnis gab, nach Moskau zurückzukehren.
Wir werden nun mit der Wolga konfrontiert; sie ist mit 3680 km der längste und wasserreichste Fluss Europas und einer der längsten Flüsse der Erde.
Die Stadt Kasan war die erste nichtrussische Stadt, die Zar Iwan IV. 1552 dem russischen Reich einverleibte. Die Stadt gilt als eine Perle der Architektur, die Orient und Okzident in sich vereint mit beeindruckenden russisch-orthodoxen Kirchen, aber auch seit 2005 mit der größten Moschee Europas. Und hier gibt es Öl und Erdgas!
In Saratow lebten die sog. Wolgadeutschen, die unter der Regierung Katharinas der Großen ins Land geholt und an der unteren Wolga ansässig wurden. Das Zentrum der Wolgadeutschen war die Stadt Pokrowsk (seit 1924 Engels). Nach Gründung der SU gab es bereits die ersten Repressalien, bis Stalin die Wolgadeutschen 1941 nach Kasachstan verbannte, was viele Opfer forderte.
Mit einem sehr traurigen Kapitel deutsch-russischer Geschichte, mit der Schlacht von Stalingrad im Winter 1942/43, werden wir in Wolgograd konfrontiert. Auf dem Mamajew-Hügel hoch über der Wolga erinnert die riesengroße Mutter-Heimat-Statue an die weit über eine Million Russen, die hier ihr Leben gelassen haben.
Nach langen Verhandlungen war es möglich, 1999 auch für die deutschen Gefallenen eine Kriegsgräberstätte am Fluss Rossoschka, 37 Kilometer nordwestlich Wolgograds, einzurichten. Die Kriegstoten durch die Kämpfe in Stalingrad werden auf deutscher Seite auf 169.000 Menschen geschätzt.
Gegenüber der deutschen Kriegsgräberstätte wurde ein Friedhof für 3.000 sowjetische Gefallene mit Unterstützung des Volksbundes Deutsche Kriegsgräberfürsorge angelegt; im Sinne der Versöhnung zwischen den Völkern arbeiten in sogenannten Workcamps deutsche und russische Jugendliche an der Pflege der Grabsteine, der Umbettung und der Wege.
Herr Seitz zeigt in dem Zusammenhang auch das Bild der „Madonna von Stalingrad“, das der evangelische Pastor, Arzt und Künstler Dr. Kurt Reuber in einem Unterstand in Stalingrad mit Kohle auf der Rückseite einer sowjetischen Landkarte gemalt hat: „1942 Weihnachten im Kessel – Festung Stalingrad – Licht, Leben, Liebe“. Das Original finden wir in der Kaiser-Wilhelm-Gedächtnis-Kirche in Berlin.
Über den Wolga-Don-Kanal und dem westlich fließenden Don ist die Wolga mit dem Schwarzen Meer und dem Mittelmeer verbunden. Man spricht übrigens vom „Mütterchen Wolga“, aber vom „Väterchen Don“. Hier werden die Stadt Starocherkasskaja als Hauptstadt der Donkosaken (bis 1805), Taganrog als Geburtsstadt des Dichters Tschechow und zuletzt Rostow am Don besichtigt.
Ganz besonders beeindruckend an diesem Vortrag war, dass es sich hier einerseits um eine Fülle an Informationen und Bildern handelte, aber andererseits auch um so eine ganz besondere persönliche Betrachtung dieses Riesenlandes! Herr Seitz’ hat mit großem Einsatz das Material zusammengestellt und kommentiert. Darum ist es bedauerlich, dass ich hier – in diesem Rahmen – nur eine kleine Auswahl treffen und viele andere interessante Aspekte weglassen musste.
Die Mitglieder und ich haben dem Ehepaar Seitz mit großem Beifall für diesen Abend gedankt!
Hannelore Bolte