Wie kam es zu diesem beeindruckenden Vereinsabend? Im März vorigen Jahres hatte uns Herr Peter Tiegs nach den amtlichen Tagesordnungspunkten der Jahreshauptversammlung schon einmal eine Kostprobe seines schauspielerischen Talents vorgeführt. Als „Herr Kummer“, der mit Herrn Polowetzer telefoniert, erinnerte er uns an die Zeiten, in denen wir alle „Die Insulaner“ liebten. In Berlin, in West und Ost, aber auch in anderen deutschen Landen saß man gebannt vor dem Radioapparat, wenn wieder einmal der RIAS eine Sendung ausstrahlte.
Schon lange in Besitz der CD-Sammlung: „Günter Neumann und seine Insulaner“, von Christian Bienert zusammengestellt, sprach ich Herrn Tiegs an, ob man nicht mal einen Insulaner-Abend planen könnte. Herr Tiegs, der natürlich diese großartige Kassette auch besitzt, war sofort von der Idee angetan. Jeder für sich hörte sich dann die acht CDs an, zog dieses und jenes in die engere Wahl, und schließlich entwarfen wir ein anderthalbstündiges Programm.
An dieser Stelle möchte ich noch einmal Herrn Tiegs aufs Herzlichste für seine Bereitschaft, für die große Mühe, und den unvergesslichen Auftritt danken. Sehr schön war auch, dass Herr Tiegs aus dem großen Beiheft die Bilder des gesamten Ensembles der Insulaner sowie der einzelnen Interpreten fotokopiert und an eine Leinwand geheftet hat. So feierten die Mitglieder schon vor unserem Beginn Wiedersehen mit Günter Neumann, Tatjana Sais, Edith Schollwer, Agnes Windeck, Ilse Trautschold, Bruno Fritz, Ewald Wenck, Walter Gross, Joe Furtner und Olaf Bienert.
Herr Tiegs hatte seinen Rekorder und die einzelnen CDs mitgebracht und markiert, wo jeweils der Einsatz zu finden war. Als Auftakt erklang das Insulanerlied, in dessen vertraute Melodie die Mitglieder sofort einstimmten. Danach gab ich eine kleine Einführung und referierte aus dem erwähnten Beiheft. Die 1. Sendung lief am 25. Dezember 1948 über den Äther. West-Berlin ist von der Blockade heimgesucht worden. Mitten in dieser schweren Zeit schrieb Günter Neumann sein Kabarettprogramm: „Der Club der Insulaner“, ohne an eine Folge oder eine Sendereihe zu denken. Die Sendung sollte die Berliner aufheitern und für die seit September 1948 14-tägig erschienene Zeitschrift „Der Insulaner“ werben. Die Zeitschrift ging bald ein, zumal sie ja in Ost-Berlin nicht gekauft und von West- nach Ost-Berlin nicht transportiert werden durfte.
Aber die Rundfunksendung über den Rias, den Rundfunk im amerikanischen Sektor- zunächst DIAS (Drahtfunk)- war ein Dauererfolg (bis zum 8. Februar 1964- mehr als 150 Sendungen!), vor allem auch in der SBZ, in der sowjetisch besetzten Zone, in Ost-Berlin und der späteren DDR, sofern es trotz der Störsender möglich war, der Sendung zu folgen.
Wie nun so eine Sendung entstand, erklärte Günter Neumann: Schon nach der letzten Verbeugung im Theater am Kurfürstendamm (es gab auch Aufführungen im Titania-Palast oder im Rias) konnte bereits beim Verkauf der Sonntagszeitungen auf dem Kudamm eine Schlagzeile gesammelt werden. Auch Neumanns Sekretärin legte eine Liste an, und später hat Hans Rosenthal von der Unterhaltungsabteilung Material zur Verfügung gestellt. Schließlich mussten die ausgewählten Themen eingeteilt werden, für die Klatschdamen am Ku’damm oder Kummers Telefonate usw. Durch aktuelle Vorfälle konnte es vorkommen, dass die Interpreten mit noch vom Vervielfältigungsapparat feuchten Texten ans Mikrofon traten.
Günter Neumann hat die Berliner lachen lassen über Dinge, die eigentlich zum Weinen waren. Er hat den sozusagen auf einer Insel im „Roten Meer“ eingeschlossenen West- Berlinern, aber auch den noch unter Sowjetherrschaft lebenden Menschen Mut gemacht, als alle mutlos waren!
In den 60er Jahren passte es manchen nicht, dass Neumanns Insulaner-Lied immer noch an der Hoffnung auf Wiedervereinigung festhielt:
„Der Insulaner hofft unbeirrt, dass seine Insel wieder ’n schönes Festland wird!“
Die Sendung wurde eingestellt. Aber Klaus Schütz’ Worte nach dem Tode Neumann 1972 lauteten: „Die Bürger in beiden Teilen der Stadt, ja viele Menschen trauern um Günter Neumann. Berlin hat einen Mann verloren, der es in guten und schlechten Tagen der Nachkriegszeit wie nur wenige verstanden hat, den Berlinern eine Stimme eigener Art zu geben und der es verstanden hat, dieser Stimme weit über die Stadt hinaus Gehör zu verschaffen.“ Wir konnten bestätigen, dass nämlich für all unsere Mitglieder, auch für die aus Westdeutschland nach Berlin Gekommenen, das Insulaner-Programm vertraut war.
Um Günter Neumann außer dieser großen Leistung zu würdigen, las Herrn Tiegs aus dem Beiheft: „Das erste Sechstel meines Lebens 1913 bis 1949“vor, woraus wir entnehmen konnten, dass er bereits vor dem Krieg Kabarett gemacht hat und deswegen auch mit den Nationalsozialisten Probleme bekommen hat. Hoffen wir, dass im nächsten Jahr am 19.3.2013 an Günter Neumann zu seinem 100. Geburtstag gebührend erinnert wird!
In unserem gemischten Programm schlüpfte Herr Tiegs dreimal in die Rolle des Herrn Kummer, was jeweils mit großem Applaus gewürdigt wurde. Einmal verkörperte er die Rolle des „Funzionärs“, und ich war die Genossin Frieda.
Neben einer Schulung durch den „Genossen“ Walter Gross hörten wir ein Gespräch der „Klatschdamen“ Agnes Windeck und Edith Schollwer und immer wieder hochaktuelle „Insulanerlieder“. Wunderte es uns zunächst, dass Agnes Windeck von einer Änderung des Grundgesetzes Artikel 3: „Männer und Frauen sind gleichberechtigt.“ sprach, so ergaben meine Recherchen, dass „alle dem Gleichheitsprinzip entgegenstehenden Gesetze bis Ende März 1953 angepasst sein mussten“. Wenn Agnes Windecks Mann nun auch abwaschen musste, wobei sie über das viele zerschlagene Geschirr murrte, trat erst am 1. Juli 1958 das Gesetz über die Gleichberechtigung von Mann und Frau im Bürgerlichen Gesetzbuch in Kraft!
Immer wieder wurden unsere Lachmuskeln strapaziert, aber den politischen Anspruch dieses Kabaretts wollten wir stets deutlich machen. Wir erinnerten an die bewegende Rede Reuters vor dem zerstörten Reichstag in der Zeit der Blockade am 9.9.1948: „Ihr Völker der Welt…! Schaut auf diese Stadt und erkennt, dass ihr diese Stadt und dieses Volk nicht preisgeben dürft und nicht preisgeben könnt!“ und legten die CD auf mit „Reuter in Amerika“ aus einer Sendung vom 29.3.1953. Die vergeblichen Hoffnungen nach Stalins Tod im März 1953, der Volksaufstand am 17. Juni 1953 sowie der Ungarn-Aufstand 1956, wurden angesprochen. Chruschtschows Forderung, West-Berlin zur „freien Stadt“ zu machen, empörte die Insulaner gewaltig: „Was Sie frei nennen, sehen wir an Ost-Berlin!“
Hatten die Insulaner am 28.6.1953 von ihrem unbeirrten Glauben gesungen, dass eines Tages ihre Heimat nicht mehr „zerschnitten“ ist, so ahnten sie nicht, dass man darauf noch 36 Jahre warten musste! Der Moderator Christian Bienert erklärte, dass dieses Nicht-Wissen gut war, denn sonst hätte die Hoffnungslosigkeit die Oberhand gewonnen!
Am Ende dankten die Mitglieder Herrn Tiegs und mir sehr herzlich für die Zusammenstellung der Beiträge. Das hat mich nicht nur persönlich gefreut, sondern auch in Hinblick auf diese lebendige Vereinsarbeit. Dass solch ein Abend gemeinsam geplant und gestaltet werden konnte, freut mich sehr. Noch einmal vielen Dank, lieber Herr Tiegs!
Hannelore Bolte