Glienicke – vom Schweizerdorf zum Sperrgebiet

Durch eine Tagesspiegel-Notiz auf die Feier des UNESCO-Welterbestättentages in Klein-Glienicke am 7. Juni 2009 aufmerksam geworden, fiel der Vorsitzenden Frau Bolte das Buch von Jens Arndt mit dem o. a. Titel in die Hände. Herr Arndt war sofort bereit, seine Arbeit auch unserem Verein im Alten Schulhaus vorzustellen.
Seit zehn Jahren in Klein-Glienicke lebend, ist Herr Jens Arndt immer wieder ins Gespräch mit den Einwohnern der ehemaligen „Ost-Exklave im Westen“ gekommen. Von Hause aus Dokumentarfilmer, erkannte er bald, dass dieses Thema zu komplex für einen Film sei und entschied sich daher für ein Buch, in dem sich aber viele verschiedene Lebensgeschichten wiederfinden. Mit einem besonderen Blick für das Bild hat Herr Arndt ein sehr umfangreiches
Material zusammengestellt, das diese einmalige Situation wieder nachvollziehbar macht. Er beginnt in seinem Buch und auch in der Präsentation mit zwei Luftaufnahmen (einmal 1959 und zum anderen vor der Wende 1989) und weist darauf hin, dass übrigens erst seit 1906 – seit dem Bau des Teltow-Kanals – Wannsee eine Insel geworden ist! An drei Seiten konnte man vom 66 m hohen Böttcherberg (in West- Berlin) auf dieses Kleinglienicke in der DDR blicken.
Zunächst informiert Herrn Arndts Frau, Manuela Arndt, Landschaftsarchitektin, über die ursprüngliche Situation in dem armen, zumeist von Büdnern bewohnten Kleinglienicke. Durch Prinz Carls Initiative, an dem „Preußischen Arkadien“ mitzuwirken, entstand hier unter der Leitung des Hofarchitekten Ferdinand von Arnim ein „Schweizerdorf“, ein Kunstdorf aus sieben bis zehn Häusern im Schweizer Stil. Von Carls italienisch inspiriertem Glienicke gelangte man also über die Schweiz, über den Böttcherberg mit künstlichen Felsformationen, hin nach England, nach Babelsberg im Tudor-Stil.
Herr Arndt führt weiter aus, dass nach 1871 eine Überformung stattfand. Die Villenkolonie Neubabelsberg entstand, was sich auch auf Klein- Glienicke auswirkte. Die Gemeinde wurde wohlhabend. Der Ort wurde auch zu einer begehrten Sommerfrische. Die Kurfürstenstraße (heute Waldmüllerstraße) wies mehrere Läden auf für Fleisch und Brot sowie für Lebensmittel (hier fiel der Name Jahnel, den wir von Wannsee in der Alsenstraße her kannten), und es gab eine große Zahl verschiedenster Gaststätten, zum Teil mit großartigen Festsälen. Es konnte eine schöne große Schule mit einer „öffentlichen Warmbadeanstalt“ gebaut werden, die aber leider nach dem Mauerbau abgerissen wurde, da sie zu dicht an der Grenze Möglichkeiten zur Flucht bot. Über die verschiedensten Fluchten, die bevorzugt mit Leitern durchgeführt wurden, die zwar stets angeschlossen sein mussten, aber die Schlüssel bei den Eigentümern waren(!), erzählt Herr Arndt; in seinem Buch kann man das eingehend verfolgen. Auch durch den „Biertunnel“ des heute noch vorhandenen Restes der großen Bürgershof-Anlage konnte z. B. eine Flucht erfolgreich verlaufen.
Ein so genanntes Grenzsicherheitsaktiv hatte – nach den vielen Fluchten – dafür zu sorgen, dass hier neben den vielen Alten linientreue Kader angesiedelt wurden. Über das ursprünglich in Potsdam befindliche, heute in Freiburg ansässige Militärarchiv konnte Herr Arndt die Recherchen der Stasi nach einer Flucht von neun Personen einsehen, die sich in Marienfelde gemeldet hatten. Der zuständige Major Pateley konnte zunächst nicht herausfinden, wie die Bürger im Juli 1973 Klein-Glienicke verlassen hatten, bis man im letzten Haus in der Waldmüllerstraße einen 19 m langen Tunnel zum Gelände des Jagdschlosses Glienicke fand. Nach diesem Husarenstück wurden nun auch ständig Keller-Kontrollen durchgeführt.
Daher war es fast unmöglich für die Bewohner dieser Sondersicherheitszone Besuch zu empfangen, so dass sich manche eine Datsche in Potsdam als Treffpunkt zulegten.
Ein besonders trauriges Kapitel beschäftigt sich mit den Begräbnissen auf dem kleinen Friedhof. Als in der ersten Zeit noch keine Betonmauer stand, trennte allein Stacheldraht die beiden Hemisphären. Pfarrer Strauss sprach dann so laut am Grabe, dass Angehörige auf westlicher Seite an der Trauerfeier gewissermaßen „teilnehmen“ konnten. Seit 1948 war Strauss Pfarrer der drei Havelkirchen Sacrow (Ost), Nikolskoe (West) und Klein-Glienicke
(Ost) und lebte fast 30 Jahre mit seiner Familie im Klein-Glienicker Pfarrhaus in der Wilhelm-Leuschner-Straße. Mit einem Motorboot ausgestattet, konnte er seine drei Gemeinden versorgen, allerdings nur bis zum 13. August 1961. Im Jahre 1977 ging er in den Ruhestand, und Pfarrer Schliephacke erhielt einen Passierschein, von Babelsberg-Nord aus auch Klein-Glienicke zu betreuen, indem er in einer Wohnung Gottesdienst abhielt. Wenn die Wende nicht gekommen wäre, hätte die Klein-Glienicker Kapelle nicht mehr vor dem endgültigen Verfall gerettet werden können. Heute kann man sich über das hervorragend restaurierte Kirchlein freuen und dort auch wunderschöne Konzerte erleben.
Auch wenn viele irreparable Schäden zu beklagen sind, ist die fürchterliche Mauer beseitigt worden. Im Buch kann man an den vielen Bildern des Künstlers Peter Rohn sehen, wie er drei Wochen nach dem Mauerfall die noch nachzuvollziehende Grenzsituation im Bilde festgehalten hatte. Im Herbst 2009 zeigte das auch seine Ausstellung im Schloss Babelsberg. Nun ist kontinuierlich die Potsdamer Parklandschaft nach Lenné wieder neu gestaltet worden, und im Dezember 1990 beschloss das Welterbekomitee der UNESCO, die Schlösser und Parks von Potsdam und Berlin auf die Liste des Kultur- und Naturerbes der Welt zu setzen.

So wie heute diese zusammenhängende Kulturlandschaft wieder erlebbar ist, so war es vor dem Mauerbau, wie uns ein Zeitzeuge aus dem Buch, Otto Macher, nach dem Vortrag berichtet. In den 50er Jahren haben sich nicht nur Wannseer Kinder, sondern auch er und seine Freunde aus Klein-Glienicke als Caddie auf dem Wannseer Golfplatz nützlich gemacht.
Unsere 2.Vorsitzende, Frau Kliem, bringt das Gespräch noch auf das sogenannte „Feierabendheim“. Eigentlich ein schöner Name- dachte sie und machte dort im Frühjahr 1990 einen Besuch. Erschüttert über die fürchterlichen Verhältnisse, in denen alte Menschen nach ihrer aktiven Arbeitszeit nun hier ihren Feierabend fristen mussten, brachte sie mit ihren Schülern Geschenke hin. Herr Arndt ergänzt, dass generell Alte, die keine Angehörigen hatten, bevorzugt in Klein-Glienicke angesiedelt wurden. Ein Fall (außerhalb seines Buches) wurde ihm bekannt, dass ein Sohn benachrichtigt wurde, dass seine Mutter in diesem Heim im Sterben liege. Es sollte aber kein Passierschein kurzfristig ausgestellt werden, bis schließlich zwei Soldaten, jeweils mit einer Kalaschnikow im Anschlag, den Sohn bis ans Bett der Mutter begleiteten.
Frau Arndt weist daraufhin, dass nun in dem Garten des früheren Feierabendheims, des ehemaligen Türkschen Waisenhauses, auch wieder wie einst Maulbeerbäume stehen sollen. Herr Prof. Seiler wird ein erstes Exemplar, auf seiner Pfaueninsel gezogen, dort am 31.Juli d. J. pflanzen.
Um den Geschichten der verschiedenen Zeitzeugen sowie den noch vorhandenen Häusern zu folgen, bietet Frau Arndt – bei angenehmeren Temperaturen – einen Spaziergang durch Klein-Glienicke und über den Böttcherberg an.
Mit großem Beifall danken die Mitglieder Herrn Arndt und seiner Frau für diesen hochinteressanten Vortrag.

Hannelore Bolte

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