Führung: Der Schönhauser Graben

Frau Bolte begrüßt Herrn Kutschmar sowie die Mitglieder sehr herzlich am verabredeten Nordausgang des Hauptbahnhofes.
Auch wenn manche Mitglieder von diesem „Graben“ noch nie etwas gehört hatten, konnte ich ihnen in der Einladung bereits versichern, dass wir viele interessante Dinge erleben werden.

Unser erster Haltepunkt ist der „Humboldthafen“, ein 33500 qm großes Hafenbecken, 1848-1859 nach Plänen von Peter Joseph Lenné entstanden. Dass der berühmte Gartenkünstler sich auch stadtplanerischen Aufgaben widmete, können wir hier oder am Landwehrkanal sowie an vielen anderen Orten in unserer Stadt erfahren.
Da die Spree stark mäandernd verlief, wurde als kürzere Verbindung zwischen Spree und Havel der 1. Kanal nach Spandau, der Berlin-Spandauer Schifffahrtskanal, gebaut, wobei der Unterlauf des Schönhauser Grabens integriert wurde. Dieser nutzte das natürliche Flussbett der Panke und war als Wasserweg zum Schönhauser Schloss geplant, damit man nicht über staubige Straßen reisen musste. Der Kanal zweigt an einem Spreebogen in nördlicher Richtung von der Spree ab und öffnet sich zum Humboldthafen. Seit 2009 werden die Kaimauern saniert, denn mitten durch das Hafenbecken verlief die deutsch-deutsche Grenze und weiter entlang des Kanals zwischen der Kieler Straße und der Sandkrugbrücke. Somit wurde das östliche Ufer durch den Bau der Berliner Mauer zum Sperrgebiet ausgebaut.

Als erstes Todesopfer an der Berliner Mauer kam hier Günter Litfin am 24. August 1961 beim Durchschwimmen durch Schüsse ums Leben. Dieses schrecklichen Verbrechens an der Menschlichkeit gedenken an diesem Tag ein paar Meter weiter an der Kieler Straße der Bruder des Opfers und eine Gruppe von Freunden an einem ehemaligen Wachturm, den Jürgen Litfin mithilfe eines 2003 gegründeten Vereins zu einer Gedenkstätte umbauen ließ. Sie soll die Erinnerung an seinen Bruder und alle Opfer der Mauer wach halten helfen.

Jenseits des Humboldthafens fällt unser Blick auf die „Charité“, die 1710 außerhalb der Stadt als „Pesthaus“ errichtet wurde. Später wurde es Armen- und Arbeitshaus sowie Garnisonslazarett, das Friedrich Wilhelm I., der Soldatenkönig, 1727 in ein Bürgerhospital umwandeln ließ mit dem Namen Charité (frz. Nächstenliebe/ Barmherzigkeit). Heute sind aus vergangenen Zeiten nur noch die neogotischen Bauten der 2. Hälfte des 20. Jahrhunderts und das 1977-1982 zu DDR-Zeiten gebaute Bettenhaus neben den vielen neuen Gebäuden zu sehen (Seit 2003 sind übrigens die medizinischen Fakultäten der Humboldt- und Freien Universität Berlin unter dem Namen Charité – Universitätsmedizin Berlin vereinigt. Mit 3.200 Betten und 7.000 Studenten ist die Charité das größte Universitätsklinikum Europas).

Zu dem bisherigen Wasserweg kam nach dem Potsdamer Bahnhof (1838) 1846 der Hamburger Bahnhof hinzu, ein Kopfbahnhof, der schon in den 80er Jahren des 19. Jahrhunderts zu klein geworden war und deshalb stillgelegt wurde. Herr Kutschmar erzählt begeistert von dem vor dem Krieg dort eingerichteten Museum für Bau- und Eisenbahnwesen und erklärt uns, wie einst die Züge durch die Tore unter den Rundbögen auf den Vorplatz fuhren und dort gedreht wurden. Da sich West-Berlin und die DDR darüber stritten, wem das Ganze gehörte, verfiel es. Heute können wir uns nun erfreuen an dem schön restaurierten Gebäude und auch an dem links davon befindlichen Verwaltungsgebäude mit dem Hamburger Wappen und unserem Berliner Bären oben am Dach.

Anschließend überqueren wir im Verlauf der Invalidenstraße die Sandkrugbrücke über den Berlin-Spandauer Schifffahrtskanal und kommen zu der ehemaligen „Militärärztlichen Akademie“ (1905- 1910), an deren Stelle bereits 1795 die Pépinière („Pflanzschule“) als Anstalt zur Aus- und Weiterbildung von Militärärzten gegründet worden war. 1919 wurde diese „Kaiser- Wilhelms- Akademie“ als Auflage des Versailler Vertrages aufgelöst, von 1934-1945 wiedereröffnet. Seit 1998 beherbergt das Gebäude Teile des „Bundesministeriums für Wirtschaft und Technologie“.

Ehe wir von der Invalidenstraße aus in die Scharnhorststraße einbiegen, sehen wir rechts das Denkmal „Sinkende Mauer“ (Entwurf von Christophe Girot), das bei der Wiederherstellung des Invalidenparks zu einer öffentlichen Grünanlage 1997 als Zentrum des großen Platzes nicht nur an die 1967 abgetragene Gnadenkirche, sondern auch an das „Verschwinden“ der Grenzmauern zu West-Berlin erinnert. Dahinter befand sich bis 1874 die Königlich Preußische Eisengießerei (heute Tafel an der Invalidenstraße Nr. 43). Neben Eisernen Kreuzen, den beiden ersten deutschen Dampflokomotiven u. v. a. m. wurden auch Denkmäler hergestellt, wie das Nationaldenkmal auf dem Kreuzberg von Schinkel und das Grabdenkmal für Scharnhorst, geplant von Schinkel mit einem eisernen Löwen von Christian Daniel Rauch, das wir anschließend auf dem Invalidenfriedhof hervorragend restauriert betrachten können.

Links an der Scharnhorststraße sehen wir das Gelände, auf dem sich das sog. Invalidenhaus befand. Auf alten Fotos können wir in einem Buch über den Invalidenfriedhof die Invalidensäule auf dem Platz und das einstige Invalidenhaus sehen, das 1748 errichtet wurde und nach französischem Vorbild Unterkünfte für ausgediente und kriegsinvalide Soldaten bot. Das Invalidenhaus konnte sich aus dem vorhandenen Grund- und Sachvermögen sowie aus der jeweils möglichen Arbeit der Invaliden selbst erhalten und fiel dem Staatshaushalt nicht zur Last! Heute befinden sich hier auch noch Teile des „Bundesministeriums für Wirtschaft und Technologie“.
Anschließend betreten wir das Gelände des „Invalidenfriedhofes“, der großen Schaden durch die Grenzsicherung erlitten hat. Von den 1961 noch erhaltenen 3000 Grabstellen sind 1989 nur etwa 230 übrig geblieben. Da die Anlage heute unter Denkmalschutz steht und ein Förderverein sich um die Bewahrung und Restaurierung bemüht, sind wir von dem gepflegten Zustand außerordentlich beeindruckt! Großartig restauriert ist das bereits erwähnte Monument für Gerhard von Scharnhorst, der 1813 in Prag an den Folgen einer Verwundung gestorben ist, die er in der Schlacht bei Großgörschen während der Befreiungskriege erlitten hatte.

Man vermutet, dass nur die Gräber von Repräsentanten der Freiheitskriege wie Scharnhorst, in dessen Nachfolge die Nationale Volksarmee der DDR sich sah (!), die völlige Zerstörung des Invalidenfriedhofs verhinderten. Andere Grabsteine wurden für den Grenzstreifen abgeräumt und ein „Todesstreifen“, eine „Hinterlandsicherung“, eine Laufanlage für Wachhunde sowie ein „Kolonnenweg“ wurden angelegt. Letzterer ist heute Teil des „Berliner Mauerwegs“, wo man auch hier an mehreren Schautafeln Näheres zur Geschichte und ebenfalls zu „Mauertoten“ erfährt.

 

Die alte Friedhofsmauer wurde rekonstruiert, eine „Königslinde“ neu angepflanzt und hier auch die einzig erhaltene Glocke der ehemaligen Gnadenkirche aufgestellt. Die von Kaiserin Auguste Viktoria gespendete, vom Bochumer Verein gegossene Glocke war nach der Sprengung der Kirchenruine im Jahr 1967 gerettet worden. Im Sommer 2013 konnte die Glocke in einem eigens dafür errichteten Glockenturm wieder erklingen.

Schräg gegenüber vom Invalidenfriedhof aus erblicken wir rechts das einstige Militär- bzw. Polizeikrankenhaus und heutige Bundeswehr- Krankenhaus.

Nachdem wir wieder an den Kanal treten, erklärt uns Herr Kutschmar, dass auf dem Areal am gegenüber liegenden Ufer der von Albert Speer geplante „Nordbahnhof“ (in Beziehung zu dem beabsichtigten Südbahnhof) von Hitlers Wahnsinnsidee der Stadt „Germania“ entstehen sollte.
Schon die Pläne von Peter Joseph Lenné sahen entlang des östlichen Ufers des Kanals eine begleitende Promenade vor, aber erst 150 Jahre später wurde sie nach der deutschen Wiedervereinigung verwirklicht. So finden wir hier auch eine Tafel mit Informationen: „Promenade am Berlin-Spandauer Schifffahrtskanal“. Wir betreten eine Fußgänger-Brücke, die Kieler Brücke (1883/1994), von der aus wir in Richtung Nordhafen schauen, der ebenfalls von Lenné geplant war. Am Nordhafen-Vorbecken mündet die sog. Nordpanke, die zwischen Buch und Röntgental entspringt. Der zweite Arm der Panke, deren alter, innerstädtischer Wasserlauf durch den Mauerbau getrennt war und der z. T. schon auf dem Gelände der Charité wiederhergestellt ist, trägt offiziell die Bezeichnung Südpanke. Von dieser Panke hieß es früher nach einem alten Berliner Spruch: „Am Schiffbauadamm Numma zwee, da fließt de Panke in de Spree.“ Diese Stelle befindet sich gegenüber dem Bahnhof Friedrichstraße 90 Meter unterhalb der Weidendammer Brücke.

Zum Schluss unserer Führung weist uns Herr Kutschmar auf das große, 1928 von Hans Heinrich Müller errichtete Umspannwerk „Scharnhorst“ als Teil der Berliner Elektropolis hin. Einst wurde hier der Strom, der durch die Überlandleitungen ankam, auf 220 Volt herunter transformiert. Das durch den Baustil der „Neuen Sachlichkeit“ bestechende denkmalgeschützte Gebäude wurde in den 1990ern außer Betrieb genommen. Jetzt nutzt es Vattenfall für seine Kundenbetreuung.
Beeindruckt, wie vielfältig (und wie neuartig) uns heute unsere Heimatstadt durch Herrn Kutschmar in – tatsächlich nur zwei Stunden – präsentiert wurde, bedanken wir uns aufs Herzlichste für sein Engagement und freuen uns schon jetzt auf eine weitere Unternehmung mit ihm.

Hannelore Bolte

(Fotos: Gertraude Krüger)

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