Schon vor einem Jahr entwickelte sich die Idee, in Wannsee auf den Spuren der Familie Siemens zu wandeln, als ich beim Besuch des Stahnsdorfer Friedhofs auf den bemerkenswerten Lebenslauf des Firmengründers Werner von Siemens (1816-1892) zu sprechen kam.
Für eine Führung über das Gelände an der Königstraße und Am Kleinen Wannsee konnte ich Herrn Dr. Dr. Gunter Seibt gewinnen. Dessen zweite medizinhistorische Dissertation trägt den Titel: „Praxis pietatis: Vom Poliohospital zur Rheumaklinik. Das Immanuel-Krankenhaus in Berlin-Wannsee zwischen 1950 und 2000“.
Vom Haupteingang des Krankenhauses aus, dessen Neubau aus dem Jahre 1987 stammt, gehen wir zunächst an dem von Ellen von Siemens, geborene von Helmholtz, so geschätzten „Japanischen“ Pavillon und den im Frühjahr so reizvoll blühenden japanischen Kirschbäumen vorbei über eine Holzbrücke. Hier befinden wir uns noch auf dem Areal des ehemaligen Obst- und Gemüsegartens der Familie von Siemens. Um in den am Wasser gelegenen Park mit seinem wunderschönen alten Baumbestand zu gelangen, müssen wir die Straße „Am Kleinen Wannsee“ überqueren. Wir bewundern die Wiederherstellung des alten Zaunes wie zur Zeit seiner Entstehung und erinnern uns an die gleiche Restaurierung in Glienicke. Überhaupt ist diese gesamte Anlage des so genannten Geldadels in Verbindung mit dem Blutadel zu sehen. Zunächst wie von allen Wannseer Villenbewohnern nur für die Sommermonate von April bis Oktober genutzt, wurde die „Siemens-Villa“ erst ab 1898 zum Hauptwohnsitz. Herr Dr. Dr. Seibt konfrontiert uns mit dem sehr beeindruckenden Foto der einstigen Siemens-Villa mit ihren Steildachpartien und Doppelzwiebeltürmen; dieses Haus hatte wirklich den Charakter eines Schlosses. Auch hier gab es eine so genannte „Neugierde“, einen kleinen Pavillon mit Ausguck zur Straße wie in Glienicke. Denn unweit von Wannsee konnte man an der Kleinen und Großen Neugierde sowie an den Glienicker Schlössern vorbei in Potsdams Schlösserwelt gelangen. Die Kaiserin kam des Öfteren auf dem Weg vom Berliner Stadtschloss nach Potsdam zu Besuch in die Siemens-Villa!
Aber um das wenig positive Urteil über dieses Schloss von Seiten des Vaters des Erbauers zu verstehen, soll noch einmal kurz auf Werner von Siemens’ Karriere eingegangen werden: Als 17- Jähriger schaffte er über den Eintritt in die preußische Armee Zugang zu einer ingenieurwissenschaftlichen Ausbildung. Mit Johann Georg Halske verlegte er als Artillerie-Offizier die Telegraphenlinie Berlin-Frankfurt am Main, schied dann aus der Armee aus und entwickelte aus der kleinen Werkstatt Siemens & Halske einen Weltkonzern. Der 1888 geadelte Firmengründer hat sich nicht nur früh für seine Geschwister und später für seine Kinder, sondern auch verantwortlich für die gesundheitlichen und sozialen Belange seiner Mitarbeiter sowie für zahlreiche gemeinnützige Vereine eingesetzt. 1872 gründete er die Pensions-, Witwen- und Waisenkasse und führte bereits 1873 den Neun-Stunden-Arbeitstag ein. Insofern hat er den außerordentlich repräsentativen Villenbau seines ältesten Sohnes Arnold von Siemens (1853-1918), verheiratet mit Ellen von Siemens, geborene von Helmholtz, der sich hier seit 1890 durchaus mit dem Blutadel messen wollte, wegen des großen Aufwands nicht gutgeheißen. Doch auch dieser Sohn folgte mit vielen Wohlfahrtseinrichtungen seinem väterlichen Vorbild. Der zweite und letzte Hausherr der „Siemens-Villa“, sein Sohn Hermann von Siemens (1885 -1986), flüchtete am Ende des Zweiten Weltkrieges nach Süddeutschland, wo er bis 1948 interniert wurde. Inzwischen hatte die Villa durch Kriegsbeschädigungen, Notbelegungen und Plünderungen arg gelitten; Steuerschulden waren aufgelaufen. 1949 wurde der Hauptsitz der Firma endgültig nach München verlegt. Nachdem die Familie von Siemens vergeblich versucht hatte, die Immobilie zu verpachten oder zu verkaufen, ergriff 1949 ein tüchtiger Mann die Gelegenheit, um die Schenkung des Hauses für kranke und sieche Menschen zu bitten: Pastor Hoffmann, ein baptistischer Geistlicher, erklärte sich mit seiner Evangelisch-Freikirchlichen Gemeinde zu Berlin-Schöneberg bereit, die Auflagen der Familie Siemens zu erfüllen. 1950 wurde für einige der vielen jungen Patienten der Polioepidemien der Jahre 1947, 1948 und 1949 das so genannte „Jugend-Hospital“ gegründet. Noch heute kann man diese Inschrift in der einst für das Wappen der Familie vorgesehenen Kartusche an einem Eingang der alten Siemens-Villa lesen.1951 wurde das Haus in „Jugend-Heilanstalt“ und 1952 in „Immanuel-Krankenhaus“ umbenannt. Um Raum zu gewinnen, wurde das reich gegliederte, aber kriegsbeschädigte Dachgeschoss einschließlich der Turmspitzen abgerissen und die Villa um zwei schmucklose Etagen erhöht. In der damaligen Notsituation ist, wie Herr Dr. Dr. Seibt betont, die Hauptleistung besonders von den baptistischen Diakonissen erbracht worden. Die jungen Menschen konnten hier in der guten Luft und in dem schönen Garten neue Kraft schöpfen. Patientinnen konnten sogar unter fachmännischer Anleitung eine gewisse Qualifizierung im Nähen erlernen; sogar Kaiserin Soraya war Kundin.
Wie schön dieser Garten am Kleinen Wannsee ist, haben wir erkunden können. Auch hier wie in Sanssouci ist eine imposante Grotte zu entdecken, ebenso ein Belvedereturm, den die Siemens-Kinder „Räuberturm“ nannten, eine etwa 7 m hohe Spielburg aus massiven Steinquadern. Schaut man von ihm aus auf das Haus auf der Höhe der Haveldünen, in den Garten und auf das Wasser hinab, staunt man über die Höhendistanz von etwa15 Metern; unser Referent witzelt über die Berliner „Berge“. Wir begeben uns dann an die Bootsanlegestelle, wo einst das erste Elektroboot namens „Electra“ ablegte. Hier an dem „Stolper Loch“, wie früher der Kleine Wannsee hieß, liest Herr Dr. Dr. Seibt eine wunderschöne Beschreibung dieses Areals vor. Kein Geringerer als Theodor Fontane ist aus seinen „Wanderungen durch die Mark Brandenburg. Fünf Schlösser“ zitiert worden. Auf dem Rückweg zur Straße kommen wir am ehemaligen Gesinde- und Kutscherhaus sowie an der einst wunderschönen Loggia vorbei, die zur Nutzung für die Patienten verglast wurde. Nach zwei Stunden, die wie im Fluge vergangen sind, bedanken wir uns bei Herrn Dr. Dr. Seibt sehr herzlich für seine sehr interessanten, vor allem aber sehr humorvoll und kurzweilig vorgetragenen Ausführungen. Zum Abschluss sitzen wir noch in kleiner Runde in der Cafeteria des Krankenhauses zusammen und freuen uns, einen kleinen Einblick in das hochherrschaftliche Wohnen in der Colonie Alsen gewonnen zu haben. Dementsprechend bestattete man auch die einzelnen Familienmitglieder. Ähnlich wie in Stahnsdorf wurde auf dem so genannten „Millionenfriedhof“ an der Andreaskirche eine kleinere, separate Grablege für die Familien von Siemens und von Helmholtz angelegt. Auch der letzte Enkel von Werner von Siemens, Hermann von Siemens, wurde 101-jährig hier 1986 in Wannsee beigesetzt. Diese Anlage können wir uns einmal bei einer späteren Führung über diesen Friedhof ansehen.
Hannelore Bolte
(Fotos: Hannelore Bolte)