Berliner Sagen – Wahrheit und Dichtung

Frau Hannelore Bolte als Vortragende des Abends erläutert zunächst den Begriff „Sage“, mit dem eine kurze, mündlich überlieferte Erzählung gemeint ist, die sich auf einen bestimmten Ort oder eine bestimmte Zeit bezieht, objektiv unwahr ist, den Glauben der Zuhörer voraussetzt und dessen Verfasser unbekannt ist. Sagen leben in allen Völkern und Zeiten.

Frau Bolte führt die Zuhörer dann direkt zum Steinkreuz an der Marienkirche in Berlins Mitte. Das Kreuz erinnert an den am 16.08.1324 von erbosten Bürgern erschlagenen und auf dem Neuen Markt verbrannten Probst Nikolaus von Bernau. Er soll sich durch hartherzige Eintreibung des Zehnten verhasst gemacht haben. Das vom Magdeburger Erzbischof verhängte Interdikt und den vom Papst erlassenen Kirchenbann gegen die Berliner wurden erst 1347 nach Zahlung einer hohen Bußssumme durch den Rat und die Stiftung eines Altars und der Errichtung des zwölf Fuß hohen Bußkreuzes wieder aufgehoben. Soweit die geschichtliche Wahrheit.
Nach Jahrhunderten war die Geschichte vergessen und man erzählt sich bis heute, dass der Baumeister der Marienkirche beim Kartenspiel mit dem Teufel die Baugelder verspielt habe. In seiner Not versprach er für die Rückgabe der Gelder beim Bau des Gewölbes einen Fehler zu machen, so dass dieses am Einweihungstag der Kirche einstürzen sollte. Da sich der Baumeister   aber nicht an diese Abmachung gehalten hatte, drehte ihm der Teufel nach der Feier beim Verlassen der Kirche den Hals um. Zum ewigen Gedenken soll das Kreuz errichtet worden sein.

Andere wollen wissen, dass ein Chorknabe beim Ausnehmen von Krähennestern unter dem Dach von seinen Kumpanen vom Brett, auf das er hinausgekrochen war, fallen gelassen wurde, weil er  nichts von seinem Raub abgeben wollte. Der Wind soll sich in seinem weiten Mantel gefangen haben, so dass er unversehrt auf dem Markt landete. Daran soll das Kreuz erinnern.

Frau Bolte führt dann zum „Gasthaus zur Rippe“ an der Ecke Alter Markt/Molkenstrasse, an der Wiege Berlins. An der Außenwand hängen zwei „Rippen“, die nach der Sage von einem Riesen stammen sollen, die in alten Zeiten noch durch die Lande zogen. Zwei dieser Gesellen kamen auch auf den Markt in Berlin. Da sie nichts von der Ordnung und den Gebräuchen der Erdenwürmer verstanden, nahmen sie, was ihnen gefiel, stopften es in einen Sack und wollten sich verziehen. Eine erboste Händlerin warf den Kerlen einen Korb Eier vor die Füße, auf denen einer ausglitt und den dann das Marktvolk erschlagen konnte. Der andere konnte entfliehen. Als man den Unmenschen bestatten wollte, stellte man fest, dass er so groß war, dass er auf keinem Friedhof Platz hatte. So zerhieb man den Riesenkörper und verteilte die einzelnen Teile auf den Friedhöfen der Stadt. Zwei Knochen jedoch, ein Schulterblatt und eine Rippe wurden an ein Haus am Molkenmarkt genagelt zur Erinnerung daran, dass sich die Berliner auch nicht vor Riesen gefürchtet haben. Das ist die Sage.
Tatsächlich hängen am Haus Schulterblatt und Zahn eines Urwals aus der Zwischeneiszeit.
Wir werden dann zur Jungfernbrücke am Kupfergraben geführt, die beim Bau zu Ende des 17. Jahrhunderts noch Spreegassenbrücke genannt wurde. Sie ist heute die älteste noch erhaltene Brücke Berlins, die letzte von neun baugleichen Brücken. Von den vielen Versionen, die es zum jetzigen Namen der Brücke gibt, ist die wahrscheinlichste und verbreitetste Sage die, dass ein gewisser Herr Blanchet, einer der zahlreichen Hugenotten der Stadt, neben der Brücke eine Bude an der Friedrichsgracht hatte, in der einige seiner neun Töchter klöppelten und nicht nur für ihre guten Arbeiten, sondern noch mehr für ihre Klatschsucht bekannt waren. Das ging so weit, dass man jede böse Neuigkeit und hämische Geschichte den Jungfern an der Brücke zuschrieb.

Zu den Löwen an der im 2. Weltkrieg stark beschädigten Parochialkirche gibt es folgende Überlieferung: An dem Turm, den man wegen seines Glockenspiels auch Singuhr nannte, saßen früher vier Löwen, die alle Stunde gebrüllt haben sollen. Der Meister dieses Werkes wurde geblendet, damit er kein zweites ausführen konnte. Seiner Bitte, noch einmal den Turm besteigen zu dürfen, wurde entsprochen. Hinaufgeführt, drehte der Meister an einer Schraub,e und kein Mensch hat je das Werk wieder in Ordnung bringen können.

Die nächste Station ist das Haus Nr. 38 der Heiligengeiststraße an der ein in Stein gemeißelter Kopf einer Frau mit Schlangen statt Haaren zu sehen ist: der Neidkopf. Es wird erzählt, dass dem König Friedrich Wilhelm I. bei seinen Gängen durch die Stadt ein recht fleißiger, aber armer Goldschmied auffiel, dessen Arbeiten ihm gefielen. Da dieser aber wenig Arbeit hatte, gab ihm der sonst recht knauserige König den Auftrag, ein Service zu fertigen, worauf der Schmied bekannt wurde und viele Aufträge bekam. Bei einem weiteren Besuch des Königs beobachtete dieser zwei Frauen im gegenüberliegenden Geschäft eines reichen Goldschmiedes, wie diese missgünstig und voller Neid auf den Goldschmied des Königs blickten. Da ließ er dem Meister ein neues Haus bauen und an demselben den Kopf einer Frau mit Schlangen als Haare und mit missgünstigen  Zügen anbringen. So mussten die neidischen Nachbarinnen ihr häßliches Ebenbild jeden Tag anschauen.

Zum Galgenhaus wird erzählt, dass in der Regierungszeit Friedrich Wilhelms I. die Hausdiebstähle zunahmen. So gab er den Befehl, jeden Dieb sofort an einem vor dem betreffenden Ort aufzurichtenden Galgen aufzuhängen. Im Haus eines Ministers in der Brüderstaße 10 wurde ein silberner Löffel vermisst. Ein Hausmädchen wurde verdächtigt und trotz ihres Leugnens gehängt. Ein Jahr später wurde die Unschuld des Mädchens bekannt: Eine zahme Ziege brachte den Löffel wieder zum Vorschein. Der König hob das Gesetz auf und kaufte das Haus, das der Minister nicht mehr haben wollte.

Die wohl bekannteste Sage spielt nicht in Berlin, sondern in Potsdam und handelt von der Mühle von Sanssouci. Danach soll König Friedrich II. der Anblick und das Geklapper der Mühle neben seinem Schloß gestört haben und er soll dem Müller, der die Mühle nicht verkaufen und auch sonst nicht weichen wollte, mit Enteignung gedroht haben. Als der Müller erwiderte, dass davor das Kammergericht in Berlin stünde, war der König ob dem Glauben an die Rechtstreue seiner Gerichte so zufrieden, dass er den Müller in Ruhe gelassen haben soll. Das ist die allgemein bekannte Geschichte, aber eine Sage.

Tatsache ist aber, dass nach Meinung des Königs die Mühle den ländlichen Charakter des königlichen Sommerschlosses unterstrich und „dass die Mühle dem Schlosse eine Zierde sey“. Er widersetzte sich den Entschädigungsansprüchen des Müllers, der wegen des Schlossbaues eine  Beeinträchtigung der Windverhältnisse beklagte und den Bau einer neuen Mühle an anderer Stelle und auf Kosten des Königs forderte. Erst nach langen Jahren gab der König dem hartnäckigen Müller nach und ging um des lieben Friedens willen auf seine Forderung ein.

Für die mit vielen Zitaten aus der Literatur und Hörbeispielen prominenter Erzähler gespickten Geschichten und Sagen danken die Anwesenden mit herzlichem Beifall.

Ulrich Locherer

Nach oben scrollen